„Mir fehlen die Worte“. Unter diesem Titel gestalteten Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Gernsheim eine Gedenkveranstaltung anlässlich des diesjährigen Holocaustgedenktages. Die Gäste in der Aula des Gymnasium wurden mit Gedanken zum Holocaust und Rassismus, Erinnerungen an Verfolgte und Opfer des Nationalsozialismus, mit musikalischen Beiträgen und szenischen Darbietungen konfrontiert.
Eingeladen zu diesem Abend haben das Gymnasium Gernsheim und der Geschichtsverein MEMOR. Schüler der Oberstufe haben selbstständig im Rahmen ihres Deutsch-, Religions- und Theaterunterrichts Beiträge erdacht und zusammen mit ihren Lehrerinnen ausgearbeitet und eingeübt.
Der Geschichtsverein MEMOR mit seiner Vorsitzenden Birgit Weinmann hat es sich zur Aufgabe gemacht, mehr junge Menschen für die Themen Verfolgung, Flucht, Vertreibung, Krieg und für die Gräuel des Dritten Reiches und die Bedeutung dieser Themen für die heutige Lebenswelt der Jugendlichen zu sensibilisieren und suchte deshalb im Rahmen der bestehenden Kooperation eine noch engere Zusammenarbeit mit dem Gymnasium Gernsheim. Weil Erinnerungsarbeit, Antidiskriminierung, Demokratiebildung und die damit verbundenen Überlegungen für das Heute gerade für die junge Generation von enormer Wichtigkeit sind, stieß MEMOR mit seinem Wunsch auf offene Ohren. Denn das Anliegen von MEMOR deckt sich mit dem Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule.
Im Frühsommer 2022 beteiligten sich bereits Schülerinnen und Schüler der 8. Jahrgangsstufe an der Ausstellung „Widerstand im Kleinformat – Politik mit Briefmarken“ im Gernsheimer Schöfferhaus. Die positiven Erfahrungen dieses Projektes führten zu weiteren Überlegungen, die in dem Entschluss mündeten, weitere Schülerbeiträge bei gemeinsam organisierten Gedenkveranstaltung zu realisieren. Am 10. November 2022 beteiligten sich daher gleich drei Klassen am musikalisch-literarischen Abend mit dem Trio „Cabaret Paris“ anlässlich des Jahrestages der Reichspogromnacht von 1938. Die Veranstaltung am 27.1.2023 wurde dann letztlich vollständig von den Schülerinnen und Schülern gestaltet.
In einer kleinen Ausstellung in der Schulcafeteria konnten die Besucher vorab Schülerzitate, Bilder und Zeichnungen betrachten sowie Näheres zu ausgewählten Biographien von NS-Opfern erfahren. Im Verlauf der Abendveranstaltung wurden diese Schicksale dann konkretisiert.
Die Stoplersteine in der Schafstraße vor dem früheren Wohnsitz der Gernsheimer Familie Nahm nahmen Schüler zum Anlass, das Schicksal von Hermann Nahm näher zu beleuchten. Der 1905 geborene Hermann Nahm war in Darmstadt zum Opernsänger ausgebildet worden. Der Gernsheimer „Rheinische Boten“ schrieb 1931 über „unseren“ Hermann Nahm: „Nahms weicher, lyrischer Bariton ist noch schöner geworden, Behandlung und Vortrag erwiesen sich als gereift und bühnenfertig.“ Er wurde in Auschwitz ermordet.
An einen kleinen italienischen Jungen namens Sergio de Simone wurde erinnert, der 1945 im Alter von nur acht Jahren ermordet wurde, als der Krieg längst verloren war. Zuvor wurde Sergio als medizinisches Versuchsobjekt missbraucht, musste fürchterliche Schmerzen ertragen, nachdem ihm Schnittwunden zugefügt und diese gezielt mit Tuberkulose-Bakterien infiziert worden waren. Um diese Gräueltaten zu vertuschen, erhängten SS-Leute Sergio und 19 weitere Kinder im Lager Neuengamme bei Hamburg. Besonders beklemmend zu erfahren war, wie Sergio in die Fänge des Hamburger SS-Arztes Kurt Heißmeyer geriet. Sergio war mit seiner jüdischen Familie 1944 nach Auschwitz deportiert worden. Getrennt von seiner Mutter lebte er im Kinderlager. Als Heißmeyer „Material“ für seine Tuberkulose-Experimente benötigte, forderte er Kinder bei SS-Arzt Josef Mengele in Auschwitz an. Ein SS-Offizier ging ins Kinderlager und fragte die Kinder, welches seine Mama wiedersehen möchte. Sergios Sehnsucht nach der Mama war zu groß. Er trat hervor und hob die Hand, obwohl er von seinen Cousinen gewarnt worden war, sich ruhig zu verhalten.
Als Schule mit musikalischem Schwerpunkt wollte das Gymnasium auch historisch relevante Musik bzw. Lieder mit einbinden. Musik im Rahmen einer Holocaust-Gedenkveranstaltung ist jedoch nicht unproblematisch – vor allem, wenn sie schlichtweg zu schön ist. Ist wohlklingende Musik überhaupt geeignet, um an das Leid der NS-Opfer zu erinnern? Diese sensible Frage lösten die Schüler des Theaterkurses von Lehrerin Nicole Kujat durch die szenische Einbindung zweier jiddischer Lieder, ausdrucksstark gesungen von Zwölftklässler Quentin Kostikov. Zehntklässler Richard Fiedler trug auf seinem Horn zwei sehr populäre Lieder der NS-Zeit vor: „Irgendwo auf der Welt“ (1932) und „Ich weiß es wird einmal ein Wunder gescheh’n“ (1942). Die Zuhörer erfuhren vorab, dass die Verfasser dieser Lieder selbst Verfolgte des NS-Regimes waren aufgrund ihrer jüdischen Abstammung, ihrer politischen Gesinnung oder ihrer sexuellen Orientierung. Zum Abschluss des Abends spielten Hornist Richard Fiedler und das Streichquartett des Gymnasiums unter der Leitung von Barbara Kiefer die „Romanze op. 36“ von Camille Saint Saens.
„Wir dürfen den Holocaust nicht vergessen!“, diesen Satz wiederholten die Schülerinnen und Schüler eindringlich in einem der vielen Beiträge. Das unermessliche Leid der Verfolgten, die ständige Todesangst, die schreckliche Ungewissheit um den Verbleib der Angehörigen, die Erniedrigungen durch die vom Rassenwahn Getriebenen, der fürchterliche Hunger in den Lagern und die unzähligen menschenverachtenden Gräueltaten dürfen nicht in einem empathiefernen, historischen Niemandsland verschwinden. Weitere Aufarbeitungen der Geschehnisse und ein couragiertes Gegenhalten gegen Geschichtsrelativierer, Schlussstrich-Forderer und Neo-Nazis sind die Grundlage einer lebendigen Erinnerungskultur. Das haben die Schülerinnen und Schüler des Gymnasium Gernsheim nachdrücklich gezeigt. (Andreas Mönk, Fotos: Harald von Haza-Radlitz, Andreas Mönk)









